Lehrplan 21


Die Attacke: Das Memorandum

Gerade als ich im Herbst 2013 den Weihnachts-verkauf meines Buches «Hände hoch!» lancieren will, kommt mir der Lehrplan 21 in die Quere. Er scheint mir ebenso aufgeblasen vor wie seinerzeit das SchülerInnen-Beurteilungs-Projekt «SchüBE», gegen welches ich mich neun Jahre zuvor (als Koordinator der Unterschriften-Aktion SchüBE HALT!) eingesetzt habe.

So steige ich ins Boot meines Bieler Freundes Alain Pichard, der mit einem Memorandum den Widerstand vieler Lehrkräfte gegen den ersten Deutschschweizer Lehrplan bündeln will. Als Co-Initiant des Memorandums «550 gegen 550» betreue ich die Website. Wir sammeln in kurzer Zeit 1'000 Unterschriften und schliessen unsere Aktion am 2. April 2014 mit einer Pressekonferenz ab. 

Der Rückzug: zu viele Schüsse von rechts

Im Juli 2014 ziehe ich mich aus der Memorandums-Gruppe zurück. Die zunehmende Instrumentalisierung unseres Widerstandes durch die politische Rechte bereitet mir Sorgen. Unser von der Berufserfahrung gespiesenes Argumentarium wird zunehmend missbraucht von Politikern, die nicht nur den Lehrplan, sondern auch zeitgemässe Errungenschaften wie Blockzeiten, Mittagstische, Kinderkrippen und Tagessschulen in den Mülleimer kippen wollen.

Dem Vorhaben der Harmonisierung der Schweizer Schule habe ich an der Urne seinerzeit zugestimmt, weil ich eine Prise mehr Einheitlichkeit angesichts der zunehmenden Mobilität unserer Bevölkerung für sinnvoll erachte. Vom fundamentalen Widerstand distanziere ich mich im Juli 2014 in einem Statement. Es findet seinen Niederschlag in einem Interview mit der TA-Redaktorin Anja Burri.  

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«Controlling im Sinne der Wirtschaft»
Interview von Anja Burri mit Andreas Aebi
«Tages Anzeiger» und «Bund»
26. Juli 2014
Controlling im Sinne der Wirtschaft.pdf
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Die Rückzugs-Erklärung
Andreas Aebi
6. Juli 2014
Veröffentlichung auf der Website des
Memorandums «550 gegen 550»
Statement zum Rückzug.pdf
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Der Transfer: Die Mitarbeit in der Erziehungsdirektion

Alle Bilder auf dieser Seite stammen vom Freundschaftsspiel zwischen dem Grossen Rat des Kantons Bern (blaues Dress) und den FunktionärInnen des Fussballverbandes Bern Jura (rotes Dress), welches anfangs Juni im Rahmen der Berner Cupfinals in Langnau zur Austragung gelangte. Die handelnden Personen  stehen in keinerlei Zusammenhang zum Lehrplan 21. Ich fühle mich ihnen aber sportlich verbunden.

Gerade als ich mich von der aktiven Opposition zurückgezogen habe, erhalte ich von Erziehungsdirektor Bernhard Pulver die Einladung, an der Umsetzung des Lehrplanes 21 im Kanton Bern mitzuwirken. Ich nehme die Einladung an. Im Oktober 2014 erhalte ich einen Gastsitz im Steuerungsausschuss, wo die wichtigen Vorentscheidungen zuhanden des Regierungsrates vorbereitet werden. Hier darf ich ins massgeschneiderte Gewand des kritischen Praktikers schlüpfen, der die möglichen Probleme bei der Umsetzung des LP 21 antizipieren soll. 

Die neue Taktik: Attacke mit Sachverstand

Mit den Kompetenzen stehe ich zwar nicht grundsätzlich auf Kriegsfuss, aber sie werden im LP 21 dermassen überstrapaziert, dass sich bei mir ein innerer Widerstand gegen die ganze Kompetenz-Hascherei aufgebaut hat. Dass ich im Ausschuss mitmache, mag deshalb erstaunen. Dahinter steckt erstens die Überzeugung, dass Gegenwind dann am wirksamsten ist, wenn er dem Wanderer direkt ins Gesicht bläst, und zweitens die Hoffnung, dass sich im Windschatten des Lehrplan-Projektes wichtige Verbesserungen für die Berner Schule erzielen lassen. Der grösste Vorteil eines differenzierten Positionsbezugs liegt aber auf der Hand: Er heisst Glaubwürdigkeit.

Und das sind im Steuerungsausschuss meine Positionen:

Grundsatzfrage: Den Lehrplan verhindern oder verbessern?

Den Lehrplan 21 kann man nicht verhindern, denn in das Projekt wurde schon zu viel Personal, Energie und Geld investiert. Der Übungsabbruch würde bewirken, dass man von vorne anfangen müsste, denn das Volk hat mit dem JA zu HARMOS einen verbindlichen Verfassungsauftrag erteilt.

Also: Den Lehrplan verbessern.

Kompetenzen: Versteckte Schulreform oder kalter Kaffee?

Sprachen die Erziehungsdirektoren zu Beginn von einer bahnbrechenden Neuausrichtung der Schule, spielen sie die Bedeutung der Kompetenz-Orientierung heute herunter: Für die Lehrkräfte sei die Ausrichtung auf Lernziele seit zwei Jahrzehnten selbstverständlich. Und einen Lehrplan solle man nicht überschätzen: Er sei nicht mehr und nicht weniger als ein Benutzerhandbuch für das Gerät «Schule».

Ich halte diese Auslegung für pragmatisch:

Lehrpläne liegen selten auf dem Tisch. Sie stehen im Regal. 

Was sind überhaupt Kompetenzen?

Was aber Kompetenzen sind, und ob das Kompetenzmodell den erhofften Erfolg (sprich zielgerichtetes und besser messbares Unterrichten) bewirken kann, ist selbst in der Wissenschaft höchst umstritten.

Ich masse mir daher kein Urteil an.

Ist das Primat der Kompetenzen sinnvoll?

Eindeutig falsch finde ich hingegen, dass die Kompetenzen in der Struktur des Lehrplans die Inhalte überragen. Die moderne Informationsgesellschaft richtet ihren Fokus immer mehr auf die «Skills» aus, und die Inhalte erscheinen austauschbar. Ich halte diese Entwicklung für gefährlich. Wir sollten sie mit dieser Lehrplanstruktur nicht noch verstärken. Ich hätte eine andere Struktur gewählt: Ganz oben zehn Schlüsselkompetenzen (wie Selbständigkeit, Teamfähigkeit ...), darunter eine ausgetüftelte Verknüpfung von wesentlichen Lernzielen und Inhalten. Aber mich hat  niemand gefragt. 

Kompetenzen versus Inhalte:

Les jeux sont faits - faisons de notre mieux.

Wie gehen die Lehrkräfte mit den Kompetenzen um?

Die «Gehorsamen» unter ihnen drohen im Ozean der Kompetenzen unterzugehen und werden sich in die Lehrmittel retten, wo ihnen alles pfannenfertig serviert wird. Die «Misstrauischen» und die «Bequemen» werden weiterhin nach Inhalten planen, was einigermassen schwer fallen könnte, zumal die Lehrmittel ihnen den entsprechenden Service nicht mehr bieten. 

Fazit: Es wird für beide «Kompetenzgruppen» anstrengend.

Schafft der Lehrplan 21 Harmonisierung?

Der Lehrplan allein schafft keine Harmonisierung. Entscheidend wird sein, ob die Stundentafeln und das Beurteilungssystem unter den Deutschschweizer Kantonen harmonisiert werden können. Und da sind namentlich in der Frage der Fremdsprachen bereits dicke Wolken aufgezogen. Meine Prognose:

Wollen tun die Kantone wohl,

aber können werden sie nicht dürfen.

Wo liegt die  grösste Chance für die Berner Schule?

In der Stundentafel! Der Kanton Bern hat nicht nur bei Math und Deutsch einen Aufholerstatus, sondern auch punkto Informatik und Berufswahlkunde. Diesen wichtigen Disziplinen fehlt ein eigenes Fach mit einer klaren Lektionen-Dotation. Und auch für die Klassenführung haben  Klassenlehrer kein definiertes Unterrichtsgefäss – opfern dafür meistens das Fach Lebenskunde/Religion. Meine Hoffnung hat sich teilweise erfüllt:

Unter dem Label «Lehrplan 21» kommt das Aufholprogramm durch.

Und die Berner Schule gewinnt an Profil.

Wo liegt die grösste Herausforderung?

In der Frage der Beurteilung! Die bernischen Lehrkräfte haben vor zehn Jahren SchüBE versenkt und werden keine Beurteilung akzeptieren, die noch aufwändiger und komplizierter ist als die heutige Beurteilungsform, die bereits einen reichlich unpopulären Kompromiss darstellt. Für die Techniker in der Projektleitung wird die Beurteilungsaufgabe zur Herkules-Aufgabe: Wie filterst du aus einer förderorientierten Kompetenzbeurteilung eine vergleichsorientierte Schulnote heraus, ohne dass die Lehrkraft zum Beurteilungs-Roboter mutiert?

Meine Befürchtung: Sie schaffen es nicht.

Wo liegt die  grösste Gefahr?

Das Kompetenzmodell, das der OECD abgeguckt wurde, schreit nach einem Controlling. Gutmütige Menschen vermuten dahinter die Idee, dass Schule damit einfach etwas besser werden soll. Misstrauische Menschen vermuten dahinter den Aufbau eines erbarmungslosen Konkurrenzkampfes von Schulen, SchülerInnen und StudentInnen nach amerikanischem Vorbild. 

Bernhard Pulver hat mehrmals bekräftigt, dass er keine flächendeckendenden Vergleichstests und keine Schulratings zulassen will. Schulerfolg solle zwar gemessen werden, aber nur stichprobenweise: Nie alle Schulen und nie alle Fächer im gleichen Schuljahr. Er hat sein Versprechen bis zu seinem Rücktritt eingehalten. Ich bin ihm dafür dankbar.

 

Was ist mein grösstes Anliegen?

Ich möchte dafür kämpfen, dass die Lehrkraft der Zukunft nicht auf den Anwender reduziert wird: Auf den User eines Kochbuchs namens Lehrplan 21, auf den User von Lehrmitteln, in denen alles vorgegeben wird, auf den Lerncoach, der nur noch die Lernumgebung bereit stellen muss, um seine Schäfchen im digitalen Ozean beliebigen Wissens baden zu lassen. 

Denn eines spüre ich – und es ist in der umfassenden Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie («Visible Learning», 2008) klar belegt: Entscheidend für den Lernerfolg eines Schülers ist nach wie vor die Lehrkraft mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Engagement, ihrer Lebenserfahrung und ihrer methodischen Vielseitigkeit, die es braucht, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der SchülerInnen gerecht zu werden.